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Liebe Freunde des Literaturhauses:
Es gehört zu den Merk-Würdigkeiten der Literatur, dass Dichter zahlreichen Lesern "Lebenshilfe" spenden und "dass man sich immer wieder ihrer Werke bedient, um sich aus eigenen Wirren und Verwirrungen herauszuarbeiten". Diese Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Richard Exner lässt sich auf die Gedichte von Annemarie Schnitt übertragen, die wir Ihnen heute Abend im Literaturhaus vorstellen möchten. "Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben lieber als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben." Dieser Vers der polnischen Nobelpreisträgerin Wislawa Simborska ist für die 1925 in Tungkun (Süd-China) geborene Annemarie Schnitt Ansporn und Herausforderung zugleich. In ihren Gedichten und Prosaskizzen versteht sie das Schreiben als "Fliegen / deutlicher Dinge deuten / aus der Distanz". In ihren Gedichtzyklen finden sich sowohl poetische Betrachtungen über die Veränderung der Natur im Ablauf des Jahres wie auch Annährungen an große literarische Vorbilder wie Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler. Die Lesung von Annemarie Schnitt, die um 20.00 im Literaturhaus beginnt, wird begleitet von irischer Geigenmusik, gespielt von Annemarie Schnitts Tochter Conny sowie illustrierenden Fotos zu einzelnen Texten. Wir würden uns freuen, Sie zu einem sicher stimmungsvollen Abend im Literaturhaus begrüßen zu dürfen. Bettina Fischer - Thomas Böhm |
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Frühling ein Ahnen wie Vorfreude auf Neues aufgetaut dein Winterherz wie es vibriert in weicher Luft warm durchpulst vom Glück des Kommenden Ein neues Lied so viele Lenze und wieder Saft in den Zweigen den Taktstock des Frühlings leih ich mir für ein neues Lied Frühling nah am Tor noch entblättert die Trauerbirke zurückgedrängte Kraft in zitternden Zweigen zurückgedrängtes Feuer im stummen Stamm es wird ein Gesang besiegen den Frost es wird ein Gestirn entfachen ein Feuer in Stamm und Geäst es wird ein Frühling vertreiben die Trauer Im Mai abgeholt von der Sonne zum Lauf in den Tag leicht und sicher an ihrer warmen Hand unter ihrem Blick singen die Vögel in dir die wintertasgs verstummten Verblasstes blüht auf Verdunkeltes lichtet sich Lautes wird leise Unstimmiges stimmig für einen Tag Hand-in-Hand mit der Sonne im Mai |
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Sommer den Sommer anwachsen lassen über der Stirn was brach liegt zum Blühen bringen in neuem Licht vielleicht möcht ein einziges Wort auferstehen zum Leben unter dem Himmel dem einzigen Noch ist Sommertag und offen der Himmel die Luft voller Samen und süßem Duft in den Feldern der Mohn in den Gärten Margriten am Steilhang zwischen Moos mein kleines Gedicht noch ist Sommertag und offen der Himmel es dreht sich der Drachen lautlos im Wind der Surfer spannt den Flügel zum Flug über Fluten am Spinnennetz spinnt mein kleines Gedicht noch ist Sommertag und offen der Himmel es atmet die Erde ganz arglos im Traum was tun wenn durch Menschen Zerstörung einbricht Taubenflügel wünsch ich meinem kleinen Gedicht Rosenzeit zur Feier des Tages eine Rose für dich dass dein Lachen sich unverloren verliert in farbenberedte Sprachlosigkeit Den Sommer bannen Den Sommer bannen in einen letzten Augenblick der Wärme ihn schmecken wie Glück ihn speichern unter der Haut als Vorrat gegen Fröste Entfaltete Flügel was bleibt von alledem vom Gesang des Sommers vom tete à tete mit dem Glück von den Farben der Freundschaft was bleibt von alledem vom Tag-Traum und Nacht-Gespinst von den Schüben des Schicksals nichts bleibt im Verbleiben am Fleck alles bleibt in der Kraft entfalteter Flügel |
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Etwas gegen den Wind setzen etwas Helles gegen die Nacht etwas Festes gegen den Schwindel etwas Klingendes gegen die Leere einen Traum gegen den Tag eine Insel gegen den Lärm eine Rose gegen den Winter ein Tun gegen das Chaos ein Gedicht gegen die Sprachlosigkeit Gebete gegen den Stumpfsinn etwas gegen den Wind setzen Herbst Nebelschwaden über dem Strand ich such im Windlicht meinen Weg hab noch Sand in Hosentaschen hab ein Lied dass weiterträgt Sonnenblume ich möcht mit deiner Sprache sprechen ich möcht mit deinem Blühen blühn ich möcht mit deinem Lachen lächeln ich möcht mit deiner Farbe färben trüber Tage Nebelkleid Nebeltag Schritte im Nebel von Schleiern umschlossen der Tag kein Duchblick mehr kein Halt auf leisen Füßen schleichen sich Stunden voran zu lösen aus Nebeln den Tag Erntedank als Dank für die Geduld des Himmels dass nicht aufhört Frost und Hitze Sonne Wind und Regen dass noch Zeit bleibt für bessere Früchte auf der bedrohten Erde Erntedank als Dank für die Fähigkeit zu Einsicht und Umkehr als Dank für geschenktes Leben das auf Ernte drängt immer neu und voll Verheißung |
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Eisregen als der Eisregen kam floh ich unter ein Dach schlug Feuer aus meinen Gedanken mit warmer Stirn zu trotzen der Kälte Freunde finden ein Haus finden zu wohnen hinter Tausendklang im Einklang Freunde finden zu zünden in der Kälte ein Feuer Töne finden zu singen gegen die Leere ein Lied Wintermorgen Schau in Flocken löst der Himmel sich lautlos auf schneeweiße Schleier umhüllen die Welt das Wunder wohnt tief unter den Träumen Warte nicht fang an schau dich nicht um fang an schreib deine Schrift in den Schnee Schneetanz Wenn wintertags der Schneetanz beginnt nimmt er dich mit ins weiße Vergessen kopfüber taumelst du mit den Flocken ins Nichts dich neu aufzuspüren im Scheeweiß Trau den Spuren draußen im Schnee den allerersten die dich hinausführen über das Glück des Anfangs in das Glück des Gelingens Bau dir ein Haus bau dir ein Haus fest für den Rücken das dich stärkt im aufrechten Gang bau dir ein Haus tragbar für die Tasche das dich begleitet quer durch die Zeit bau dir ein Haus verborgen im Herzen das dich wärmt im winterlichen Frost bau dir ein Haus hell hinter den Gedanken das dir leuchtet zu nächtlicher Stund Musik Weihnachten Unser Weg in die Zukunft Fußmarsch am Grat Meter um Meter durch Nebel wir schlagen ein Zelt auf und hauchen Leben warm gegen den Wind bedenken die Stätten die längst schon begangen sind weit zurück bis zur Hütte zum Kind und wagen neu gegen die Kälte zu gehen Weihnachtswunsch wach zu werden wie die Weisen hellhörig wie die Hirten bewegt wie Josef wissend wie Maria Gefährten zu finden mit Flügeln Ich ahne Menschenmögliches zwischen Menschen aller Rassen und Nationen zwischen Menschen aller Generationen zwischen Mann und Frau ich ahne Menschenmögliches im Unmöglichen Menschenunmögliches als Mögliches unter dem Zuruf des Himmels Jahresabschied im Dämmer über hingeduckten Häusern ein magerer Mond über dem Meer am letzten Tag des Jahres allein dem Menschen möglich das Zugehen auf Zukunft von Jahr zu Jahr von Neumond zu Neumond zu neuem Ziel Neujahr unter Wellenrauschen in ein neues Jahr wir flüchtigen Wesen verrauschender Zeit hingeworfen ans nackte Ufer festzuhalten den Tag fortzuschreiben den Weg |
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Zum Abschluss der Lesung: Verfügungen für 12 Monate aufgefangen von Thiago de Mello (ein brasilianischer Lyriker und Musiker) Januar: Es wird verfügt, dass Geld niemals die Sonne des kommenden Morgens kaufen kann, und dass jeder Mensch sich an den Tisch setzen kann mit ungetrübtem Blick... Februar: Es wird verfügt, dass jetzt die Wahrheit zählt, dass jetzt das Leben zählt, und dass wir alle Hand in Hand für das wahre Leben eintreten. März: Es wird verfügt, dass es jedem Menschen erlaubt ist, sich in jeder Stunde seines Lebens weiß zu kleiden. April: Unwiderruflich wird die ewige Herrschaft der Gerechtigkeit und des Lichtes ausgerufen! Mai: Es wird verfügt, dass alle Fenster den ganzen Tag dem Grünen geöffnet bleiben, wo die Hoffnung wächst! Juni: Es wird verfügt, dass das tägliche Brot immer den warmen Geschmack der Zärtlichkeit haben soll! Juli: Es wird verfügt, zu wissen, dass es das Wasser ist, das der Pflanze das Wunder der Blume gibt! August: Es wird erlaubt sein, am Nachmittag mit einer riesengroßen Begonie im Knopfloch spazieren zu gehen! Nur eines wird verboten sein: zu lieben ohne Liebe. September: Es wird verfügt, daß von nun an in allen Fenstern Sonnenblumen stehen. Oktober: Es wird verfügt, dass der Mensch niemals mehr am Menschen zweifeln muß, dass der Mensch dem Menschen vertrauen kann wie die Palme dem Wind!... November: Es wird verfügt, dass Menschen frei vom Joch der Lüge sind. Niemals wird es nötig sein, sich zum Schutze in Schweigen zu hüllen! Dezember: Für ein Jahrtausend wird das von dem Propheten Jesaja erträumte Leben festgesetzt: Der Wolf und das Lamm werden gemeinsam weiden, und die Nahrung beider wird nach Morgenröte schmecken. |