… Ich bedanke mich herzlich für die Einladung in diese „Donnerstags“-Runde. Bei Ihnen lesen zu dürfen, ist mir eine Ehre. Vielleicht wird für mich als Zugezogene, die ihr Herz zuvor ans Ruhrgebiet verloren hatte, auch Northeim dadurch noch etwas vertrauter?
Im Ruhrgebiet erlebte ich neben sehr interessanten Aktivitäten im kirchlichen Raum auch gute Begegnungen über den dortigen Kulturförderverein Ruhrgebiet.
Es waren Freunde dieser Gruppe, die mich damals an den Computer brachten. Sie führten mich ein und gestalteten mir eine eigene Homepage für meine vielen, inzwischen angesammelten Texte.
Auf diese Weise kam ich an einen „virtuellen“ Schreibtisch, an dem ich systematischer Ordnung schaffen konnte als auf dem realen mit vielen Zetteln und Blöcken. Es gab erste Mail- und Gästebuchreaktionen, Gedankenaustausch mit mir fremden Menschen, die auf die Texte gestoßen waren. Eine neue Welt für mich, die im Laufe der Jahre mein Leben sehr bereicherte!
Nachdem ich in den 80er Jahren drei kleine Lyrik-Buch- Veröffentlichungen im Kiefel-Bertelsmann-Verlag hatte, betreute mich hier im Kulturförderverein eine junge Germanistin als Lektorin im einem neu gegründeten Verlag des Kulturfördervein Ruhrgebiet(KFVR). Dort kam gerade ein viertes Büchlein von mir heraus, der “Perlfluss Poesie“, dessen Titel einen sehr speziellen Hintergrund rückspiegelt. Darauf möchte ich zum besseren Verständnis kurz eingehen:
Ich bin in Südchina geboren, bin zwischen Perlfluss und Ostfluss (im heutigen Guangzhou) auf einer Missionsstation aufgewachsen. Mein Vater leitete dort als Missionar der Rheinischen Kirche Wuppertal ein Lepra-Asyl mit über 300 an Aussatz erkrankten Menschen. Es wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Auffanglager gegründet, als Missionare die von der Gesellschaft Ausgestoßenen auf Friedhöfen, in einsamen Höhlen und Ecken auflasen und ihnen ein Obdach schafften auf einer nahen Halbinsel im Ostfluss, der nicht weit entfernt in den Perlfluss mündet. In diesem Perlfluss-Ostfluss-Gebiet wirkten Missionare schon seit über 100 Jahren im ärztlichen, im Schul- und seelsorgerlichen Dienst, bis die Mao-Revolution 1949 die Ausländer vertrieb.
Ich sehe in meinem Vater den ersten Entwicklungshelfer dort, dessen besonderes Anliegen, bei auch ausgeprägt praktischen Begabungen, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die noch arbeitsfähigen Kranken war, um ihrem Leben Sinn zu geben. Er baute mit ihnen es fehlte nicht an tüchtigen Handwerkern bei den Betroffenen sicherere Häuser und Hochwege gegen die ständigen Überschwemmungen … und dazu die erste Wasserleitung im südchinesischen Raum.
Wichtig war eine Anlaufstelle für Neuankömmlinge, ein Haus zur Aufnahme, zur Neueinkleidung und für die notwendige erste ärztliche Untersuchung. Eines Tages wurde ein 15-jähriges Mädchen eingeliefert, das sich sogleich in den Ostfluss stürzte aus Verzweiflung über seine Lage. Drei beherzte Kranke sprangen hinter ihr her und retteten sie aus den Fluten. Dieses Kind wurde zum Liebling aller umsorgt und geliebt in den weiteren Jahren.
Einmal wöchentlich fuhr der Missionsarzt einer nahen Hospitalstation im Boot meines Vater mit hinüber zur Lepra-Insel, um den Gesundheitszustand der Betroffenen zu überprüfen.
Eine Kapelle wurde gebaut als Begegnungszentrum, ein Raum für Gespräche, Andacht und Stille. Mit der Harmonie-Lehre der drei chinesischen Religionen, dem Daoismus Buddhismus Konfuzianismus, versuchten Christen ihr theologisches Denken in Einklang bringen! In allen Religionen geht es um den Menschen zwischen Himmel und Erde. Unserm christlichen und ausgeprägt anthropologischem Heilsverständnis steht ein kosmisches in den anderen Religionen gegenüber. Auch die christlichen Aussagen wurden verstanden und dankbar angenommen und Gemeinden gegründet, zu denen es heute noch Kontakte gibt.
Auf dem Gelände des Lepra-Asyls entstanden Töpfereien, Werkstätten mit Brennöfen für alle nötigen Gebrauchsgegenstände wie Reisschalen, Vasen, Krüge. Angelieferte Tonerde wurde gemischt mit vorhandenem Quarzsand und Wasser vom Flussufer vor Ort.
Mein Vater ließ eine Steinpresse aus Deutschland kommen und stellte mit den Lepra-Kranken Stein- und Terrazzoplatten in jeder Größe und Menge her, etwas ganz Neues damals auf dem chinesischen Markt Ware, die als gebrannte Ware auch verkauft werden konnte in die Städte rundum. Noch heute zum Beispiel ich hoffe es! - ist der Bahnhofsvorplatz von Guangzhou mit den Platten vom Asyl gepflastert. Auch Hospitäler in Hongkong zeigten großes Interesse an den neuartigen Fußbodenplatten.
So trugen die noch arbeitsfähigen Kranken selbst bei zu ihrem Lebensunterhalt, entwickelten neue Lebensfreude und waren nicht nur auf Spenden aus Amerika und anderswo angewiesen.
Oft erzählte mein Vater von der sehr besonderen Arbeitsatmosphäre dort: Jede Arbeit war freiwillig, einige schafften nur noch Handreichungen, andere schauten zu und freuten sich mit den Schaffenden über die Erfolge!
In diesem Umfeld wuchs ich mit meiner jüngeren Schwester mit chinesischem Namen (Mulan und Amui) unter Chinesenkindern auf. Wir sprachen ihre Sprache, spielten ihre Spiele. Ein paar Jahre später kamen noch ein Bruder und eine Schwester hinzu. Da ich wiederholt bedenklich an Malaria erkrankte, entschlossen sich meine Eltern schweren Herzens, mich mit meiner Schwester nach ihrem Deutschlandurlaub 1932 im Missionsinternat in Düsseldorf -Kaiserswerth zu lassen bis zum nächsten Urlaubswiedersehen nach den üblichen sechs Jahren. Daraus wurden dann kriegsbedingt 16 Jahre. Erst 1948 gab es dann ein bewegendes Wiedersehen am Flughafen in Frankfurt.
Doch das alles ist nicht das Thema dieses Abends. Der Perlfluss, den ich als Kind erlebte, blieb mir mit guten Bildern im Gedächtnis. Ich sah ihn 1991 wieder bei einem Besuch der alten China-Gemeindestationen und wanderte in Guangdomg gedankenverloren an seinem Ufer entlang. Inzwischen wurde er für mich zu einem Gedankenfluss, zum „Perlfluss Poesie“, der sehr viel verstecktere Bahnen zieht als der mächtige Fluss der Kindheit in China.
Und nun bevor ich lese noch diese Frage: Wie kommt man ans Schreiben?
Mir schenkte ein Patenonkel zur Konfirmation im ersten Kriegsjahr ein dickes leinengebundenes Tagebuch: blau mit kleinen roten Blüten darauf … Das begleitete mich durch die Pubertät, half mir über manche Kriegsereignisse und Heimwehphasen hinweg und hielt mich an zum ersten Reflektieren und Gedankensammeln. Ein originelles Sammelsurium trauriger und lustiger Lebenserfahrungen, erste Rilke-Gedichte, später auch Hölderlin und dazwischen versponnene eigene Schreibversuche. Ein Tagebuch löste im Laufe der Zeit das nächste ab, bis dann in letzten Büchern sehr viel später nur noch Gedichtversuche übrig blieben.
Vielleicht ist der Perlfluss Poesie auch eine Art Tagebuch! „Möcht nicht sprachlos werden“ heißt eins meiner ersten Lyrikbändchen aus dem Kiefel-Bertelsmann-Verlag aus den 80er Jahren. Denn: Schreiben heißt doch „bei Sprache bleiben“, heißt zu kommunizieren mit sich selbst, mit Gott, mit einem Gegenüber.
Bevor ich lese, möchte ich noch kurz Octavio Paz, den mexikanischen Dichter und Diplomaten zitieren.
Er schreibt: "Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört!“
In diesem Sinne möchte ich mich jetzt abschaffen beim Lesen der jüngsten Gedichte aus dem Perlfluss Poesie.
|
|